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Die Fakultät für Sozial­wissenschaften der Universität Mannheim zum Tod von Prof. em. Dr. rer. pol. Dr. h.c. mult. Hans Albert

Am 24. Oktober 2023 verstarb Prof. Dr. Hans Albert, Emeritus der Fakultät für Sozial­wissenschaften. Mehr als ein Vierteljahrhundert seines Lebens – von 1963 bis 1989 – war er Inhaber des Lehr­stuhls für Soziologie und Wissenschafts­lehre an der Universität Mannheim. Sein Einfluss und Wirken ist für die Fakultät und darüber hinaus bis heute spürbar. Prof. em. Dr. Hartmut Esser, Nachfolger Hans Alberts auf dem Lehr­stuhl für Soziologie und Wissenschafts­lehre, würdigt in seinem Nachruf den prägenden Wissenschafts­theoretiker.

Hartmut Esser

Über viele Brücken kann´s nur geh´n – Zum Tod von Hans Albert*

Am 24. Oktober 2023 ist Hans Albert im Alter von 102 Jahren gestorben. [1] Schon vor gut zwei Jahren, zum 100. Geburtstag, erschienen viele Würdigungen seiner zentralen Beiträge – Rationaler Kritizismus, Münchhausen-Trilemma, Positivismus-Streit, auch biographische Notizen und Erinnerungen, ironisierend, spöttisch und angriffslustig oft, seiner Art entsprechend, besonders wenn es gegen die Spielarten des Fundamentalismus ging, des wissenschaft­lichen, des politischen wie aber auch, besonders gerne, des religiösen, der gar nicht anders kann. Er wurde hierzulande wie international als kongenialer Vertreter des Kritischen Rationalismus nach Karl R. Popper bekannt. Das hat ihn, wie Popper, zu einer beliebten Zielfigur der Kritik der eher literarischen und sozial-philosophischen Varianten der auf apodiktischen Behauptungen, Anbetung und Erbauung setzenden Varianten der Soziologie gemacht. Und auf ihn konnte man sich auf der anderen Seite verlassen, wenn es darum ging, das Gewicht der analytisch-empirischen, kausal erklärenden und darüber dann auch erst wirklich aufklärenden Soziologie zu stärken. Aber hier sah er die Gefahren ebenfalls: Immer hat er sich gegen nur formal bleibende Hypertrophien gewandt, in denen die jeweiligen Annahmen und Techniken ein Eigenleben bekommen und deren Logik dann alles zu bestimmen beginnt: gegen den Modellplatonismus der neo-klassischen Ökonomie und ihrer Abkömmlinge ebenso wie gegen jene empiristische, theoriefreie Variablen-Soziologie, die außer verfügbaren Daten und statistischen Finessen nichts weiter kennt oder gelten lässt.

Bemerkenswert war vor diesem, wie auch bei vielen Anlässen vorher schon, die Zurückhaltung des in der Denomination seines Lehr­stuhls für „Soziologie und Wissenschafts­lehre“ in Mannheim erstgenannten Fachs: der Soziologie. Das reflektierte eine eigenartige Asymmetrie aus dem Erbe des Positivismus-Streites von 1968: Wer die Argumente methodologisch einigermaßen einzuordnen verstand, musste Hans Albert als eindeutigen Gewinner gegen seinen Kontrahenten, Jürgen Habermas, ansehen: Soziologische Theorien sind in ihren Begriffen und Aussagen keineswegs an die „Hermeneutik der natürlichen Lebens­welt“ gebunden, man kann vorher nicht wissen oder a priori setzen, was jeweils „gesellschaft­lich relevant“ sei und was nicht, es gibt keine „Gesetze“ oder gar ein „Telos“ der Geschichte und man kann durchaus oder womöglich auch nur mit theoretisch informations­haltigem und empirisch bestätigtem Wissen gesellschaft­liche Veränderungen im Sinne eines „emanzipatorischen Er­kenntnisinteresses“ anleiten: als rationale Praxis. Es waren nicht viele, die dem zu folgen vermochten. Der Großteil der Soziologie wandte sich anderen methodologischen Auffassungen zu. Es folgten, nach Kritischer Theorie und Neo-Marxismus rasch wechselnde Konjunkturen der Pluralisierung und öffentlichen Resonanz verschiedener Vokabularien, zuerst die Habermas-Luhmann-Kontroverse und schließlich über die Jahre mehr und mehr eine bunte Mischung auch vieler Absonderlichkeiten, die Rückkehr der wabernden und orakelnden (Sozial-)Philosophie und verschiedener Varianten des methodologischen Separatismus – bis in die Talkshows und Podcasts hinein, die mehr und mehr auch die wissenschaft­lichen Diskurse zu bestimmen beginnen. Für den relativ kleinen Rest der analytisch-empirischen Soziologie waren die Vorgaben des Kritischen Rationalismus oft nur eine in der eher unsympathischen Geste der wissenden Überlegenheit auffallend leer bleibende Selbstverständlichkeit, die sich rasch in ein Grundsatz­programm schreiben ließ, mit der man sich aber nicht weiter beschäftigen musste oder es, klammheimlich, auch als eher lästig und überflüssig empfand. Kurz: Die Wissenschafts­lehre und der „Kritische Rationalismus“ fanden und finden in der Soziologie, hierzulande wie auch international, eigentlich nicht mehr statt, beschleunigt und verfestigt durch das nahezu geräuschlose Ableben der Ausbildung in den wissenschafts­theoretischen Grundlagen schon im Grundstudium mit der Einführung der Bachelor­studien­gänge vor etwa zwanzig Jahren und den zunehmenden Zwängen, davon unbelastet möglich rasch ein Doktoranden-Thema zu finden und in einem Top-Journal unterzukommen.

Die Standard­auffassungen zum Kritischen Rationalismus, zu Popper und Albert, sind gut bekannte – und beargwöhnte – Formeln: Präzise und informations­haltige Theorien mit dem Ziel der nomologischen Erklärung durch systematische empirische Prüfung, in den Sozial­wissenschaften wie in den Natur­wissenschaften, werden von außen meist als eine die Besonderheiten des sozialen Gegenstands grundsätzlich verfehlende und dem faktischen Vollzug nicht entsprechende Vorgehensweise verstanden. Oft genug kommen etikettierende Ausschmückungen hinzu, in denen der Kritische Rationalismus als monolithische Betonklotz-Methode der hirnlosen Fliegenbeinzählerei dargestellt wird, alle Vorstellungen von Pluralität, Reflexivität und Konstruktivität des Gegenstandes und der Relativität möglicher „Wahrheiten“ platt walzend. Dokumente dazu haben die Auseinandersetzungen um die inzwischen etablierte Spaltung des Faches hierzulande zur Genüge geliefert. Und in vielen bunten Bubbles des soziologischen Kosmos werden sie mit großer Selbstverständlichkeit weiter gepflegt.

Hans Albert war denjenigen, die ihn erlebt haben, als ziemlich gnadenlos bekannt, der Eindruck war meist nicht falsch. Vorgeworfen wurden ihm drei Formen der Engstirnigkeit: Positivismus, Monismus und die, so könnte man sagen, Paradoxie des Dogmatismus der rationalen Kritik. Die erste der Vorhaltungen, die des Positivismus, war immer schon falsch; die des Monismus hat(te) etwas für sich, jedenfalls in der Wirklichkeit mancher alltäglichen Forschung in diesem Rahmen. Und die dritte war auch nicht unverständlich, jedenfalls mit Blick auf die Versionen von Karl R. Popper, besonders der frühen Beiträge, etwa der „Logik der Forschung“. Aber sie war unzutreffend wie das Volker Gadenne so überzeugend herausgearbeitet hat. [2] 

Darum soll es hier gehen, um die erstaunlich undogmatische Seite des Wissenschafts­philosophen und Soziologen Hans Albert, wodurch manches relativiert wird, was an Popper und anderen nicht zu Unrecht gestört, irritiert und der Überzeugungs­kraft ihrer Argumente im Weg gestanden haben mag. Es sind drei Punkte, im Abstraktions­grad absteigend, an denen sich das zeigen lässt: Epistemologie, Theorie und Realität, soziologische Erklärungen. Immer geht es um ein Plädoyer für das Bauen und Betreten von Brücken, für Öffnung und weitere Reflexion und für die Nutzung von Zweifeln und Absonderlichkeiten, um im Wissen über die Welt weiter zu kommen, vor allem mit kleinen Schritten, weniger in großen Entwürfen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das war kein Zurückweichen in zentralen Punkten. Denn die Öffnung führt nur konsequent den Kernpunkt der Konzeption von Hans Albert weiter: die Einsicht in die Un­möglichkeit von Letztbegründungen, jetzt auch für die methodologischen Regeln. Diese Regeln sind Setzungen wie jede andere normative Aussage auch, man kann sich darauf einigen, über gute Gründe womöglich, aber ein sicheres Fundament bieten sie nicht. Dieser Zug hätte, wenn er bemerkt worden wäre, eine fatale Wirkung auf die Position der Gegenseite: Ihr wäre für die notorischen Einwände gegen den Kritischen Rationalismus als monolithisch-selbstsichere Methode der Boden ganz entzogen worden. Wir bezeichnen das Konzept mit Hans Albert als „Rationalen Kritizismus“: Der Zweifel an allen Gewissheiten, dem man aber mit Vernunft begegnen kann.

Nun die drei, besonders zentralen Beispiele dafür: Epistemologie, Theorie und Realität, soziologische Erklärungen, also die Begründbarkeit von Wissen und Er­kenntnis, die Begründbarkeit von Theorien allgemein und die Begründbarkeit der Konstruktionen dann speziell bei soziologischen Erklärungen. Immer geht es darum, ein vernunftgeleitetes Konzept der pragmatischen Problemlösung zu entwickeln, das sich stets auch nach außen orientiert und jeden Anspruch auf Autonomie und Letztbegründung aufgibt, auch den Essentialismus des Verfahrens der Problemlösung vermeidet.

Epistemologisch wäre die Vorstellung aufzugeben, für die Gewinnung von Er­kenntnissen wäre das Vorstoßen zu einer „transzendentalen“ Ebene erforderlich oder überhaupt möglich, oder die Annahme, dass Beobachtungen einen eigenen Gewissheitsstatus als Basis der Theoriebildung haben könnten, unabhängig von den – expliziten wie impliziten – Voreinstellungen der Beobachter. Statt sich ewig um eine unnötige und unmögliche Sache zu bemühen, wäre es angeraten, sich der Wissensstände über die Gewinnung von Wissen anzunehmen und damit dann weiter zu machen, bis es neue Er­kenntnisse gibt. Die kognitive (Sozial-)Psychologie insbesondere und ihre Fortführung in den Neuro­wissenschaften bis hin zu Techniken der Bildgebung von Hirnfunktionen bieten eine weitere Brücke für die Beurteilung von Vermutungen darüber, was denn dahintersteht und was man besser verstehen möchte, womöglich sogar muss, um weiter zu kommen. Das mag mancher/manchem aus der phänomenologischen Philosophie den Husserl aus dem Bücherregal fallen lassen. Es hilft ihr/ihm nichts. Man kann sich nur damit retten, dass die Philosophie sowieso etwas anderes sei und ohne Belang für die Real­wissenschaften. Es würde manches erleichtern, gerade derzeit, wo erneut vieles miteinander vermengt wird, was analytisch getrennt bleiben sollte.

Für die Frage von Theorie und Realität gilt das ähnlich, nun allerdings auf Propositionen bezogen, die die Aufdeckung der kausalen „Produktion“ eines Effektes aus bestimmten Bedingungen formulieren, den „generierenden Mechanismus“, auf Erklärungen also wie das Hempel-Oppenheim-Schema, das die zentrale Brücke von bloßen Beschreibungen der Zusammenhänge von Ereignissen zu einer Aufdeckung der kausalen Mechanismen bildet, die die spezielle Beziehung allgemein hervorbringen bzw. „produzieren“.

Die logischen Bedingungen einer kritisch-rationalen Theoriebildung sind gut bekannt: Klarheit in den Begriffen, Präzision und Informations­gehalt in den Aussagen, empirische Interpretation, möglichst strenge Tests, ernsthafte Fehlersuche und Fehlerelimination und Wahrheitsannäherung, wenn alles gut geht. Wissensfortschritt also, vielleicht, niemals aber Sicherheit. Und das war der besondere Dreh von Hans Albert: Die kritisch-rationale Methodologie ist kein alles beherrschendes, starres, normatives Regelwerk, dessen Beachtung letztlich doch eine Art von (Vollkasko-)Versicherung für die Wahrheitsfindung darstellt, sondern eine offene „Heuristik“, die auf alle Versuche, bestimmte (Letzt-)Kriterien zu benennen, mit dem Hinweis der grundsätzlichen und unüberwindbaren Offenheit und Unbegründbarkeit aller Aussagen über „Theorie und Realität“ antwortet: keine Ausgrenzung des Entdeckungs­zusammenhangs, kein sprachliches Abgrenzungs­kriterium, kein Sonderstatus von Beobachtungs­aussagen, kein Anspruch auf „Reduktion“ hin zu Visionen einer Weltformel oder einer physikalistischen Einheits­wissenschaft, wohl aber das Ziel einer – wechselseitig fruchtbaren – „Einheit der Gesellschafts­wissenschaften“ in der ganzen Pluralität und Komplexität ihres Gegenstandes. Kurz: Auch die peinlichste Befolgung einer formalen „Logik“ der Forschung in der empirischen Anwendung bringt die Gewissheit nicht, die, wenigstens klammheimlich, im Popper-Lager erhofft wird. Sie hindert eher den Er­kenntnisgewinn. Und somit gibt es auch keinerlei festen Grund für den Sonderstatus einer „autonomen“ Soziologie und einer darauf aufbauenden Konzeption der „Situations­logik“, schon gar nicht, wenn sie wie bei Popper auf der Rationalität des Handelns als fast schon ontologisch gefasstem Apriori aufgebaut ist.

Das wird beim Kern des wissenschaft­lichen Tuns, der Formulierung und Prüfung von Theorien, nur zu deutlich. Theorien sind unauflösbare Geflechte von Aussagen über (Kausal-)Zusammenhänge, Messhypothesen und einer Reihe von Hintergrundannahmen, die nie alle gleichzeitig zu überprüfen sind. Allein das zwingt zur Zurückhaltung in den Ansprüchen und Festlegungen – sowohl in der Behauptung theoretischer Geschlossenheit wie der Autonomie eines Fachs. Es geht – mit Hans Albert – um die Grundeinstellung, die der Offenheit, der Vorläufigkeit und dem Interesse an pragmatischen, problem­orientierten Lösungen. Und dann wird, wenn man verstehen will, warum es mit der kritischen Rationalität manchmal so langsam oder überhaupt nicht geht, auch Wissen darüber wichtig, was die Wissenschaft­ler denn wirklich so treiben, meist notgedrungen, Wissenschafts­soziologie also, mit allem, was dazu gehört: Werte, Entdeckungs­zusammenhang, Karriereinteressen. Aber das heißt nicht, dass damit die Grundsätze einer kritisch rationalen Methodologie ausgehebelt seien. Es bleibt immer dabei, dass die Etikettierung einer Aussage als wahr oder falsch (logisch) davon unabhängig ist, was die Wissenschaft­ler wollen, glauben oder tun. Zu dieser Offenheit zwingen dann insbesondere zwei weitere Aspekte und Bestandteile der Etablierung und der Fort­entwicklung von Theorien: Die formale Modellierung und die gehaltserweiternde Konditionalisierung. Beides ist ohne Übersetzungen, Überbrückungen und Inkommensurabilitäten nicht zu haben. Nichts liegt vorher oder nachher fest, immer gibt es anderswo schon Lösungen, die man kennen müsste, und immer sieht eine Theorie, die sich weiterentwickelt hat, anders aus als vorher, wenn es eine Alternative gibt oder auch nur daran gedacht wird, dass sie nur ein Spezialfall mit konditionaler Geltung oder ein bald abgelegtes Alt-Paradigma sein könnte.

Am Kriterium des Informations­gehaltes und des Theorievergleichs wird das gut sichtbar: Solange die Begrifflichkeiten und Grundstrukturen einer Theorie gegeben sind und es nur darum zu tun ist, an einzelnen Stellen etwas zu ändern, etwa die Ersetzung von sicheren Erwartungen in der Preistheorie der Ökonomie durch beliefs als subjektiv eingeschätzte Erfolgs­chancen in der Rational-Choice-Theorie, funktioniert das alles. Je komplizierter eine Theorie, umso schwerer wird es, sie zu widerlegen, und es sinken entsprechend Informations­gehalt wie praktische Verwendbarkeit. Das Problem fällt nicht auf, solange alles stimmt – wie in der Praxeologie des Alltagshandelns. Geht aber etwas schief oder stößt man auf Umstände, in denen es nicht mehr funktioniert, muss etwas geändert werden. Und oft genug zeigt sich dann, dass die in Schwierigkeiten geratene Theorie nur ein Spezialfall eines übergeordneten theoretischen Zusammenhangs ist, der die konditionalen Unterschiede wiederum erklärt. Es wäre ein großer Triumpf und ein besonders eindrucksvoller Fall des wissenschaft­lichen Fortschritts. Aber was wäre mit dem Informations­gehalt? Den kann man dann getrost vergessen: Die übergeordnete Theorie muss andere Begriffe enthalten als jede der konditionalen Teiltheorien, und sie muss zwingend auch auf andere empirische Bedingungen und Zusammenhänge zurückgreifen, Inkommensurabilität also und Unvergleichbarkeit. In einem dogmatischen Verständnis des Festhaltens am Kriterium der Widerlegbarkeit und des Informations­gehaltes gäbe es, gelinde gesagt, Fragen über Fragen, und gerade die Puristen der rationalen Kritik würden hier entnervt aufhören und zunehmend dogmatisch auf ihrem Paradigma beharren. Was sie auch tun.

Mit dem heuristischen Verständnis von Hans Albert ist das anders: Wir machen mal weiter und sehen uns um, wie man das aufgetretene Problem lösen kann, auch wenn jetzt erst einmal alles etwas unübersichtlicher geworden ist. Und, wer weiß, vielleicht kommt ja eine Lösung heraus, bei der man auch wieder aus der Sicht der engeren Kriterien zustimmen kann.

Schließich bleibt die auch nach dem Positivismusstreit und den Klarstellungen dort nicht verstummte Frage nach den Werten und der Wertfreiheit bei der Frage nach Theorie und Realität. Hier geht es um eine ganz besondere Überbrückung, die der Spannungen zwischen „Sollen und Sein“, zwischen Zielen und Mitteln und dem, was die Aufgabe und Zuständigkeit der Wissenschaft ist und was nicht. Hier ist es aber anders mit dem Überbrückungs­problem. Die Begründung und Unterstützung bestimmter Werte gehört eben nicht dazu. Mit Max Weber kommt es vielmehr, in den Worten von Hans Albert, darauf an, „den Er­kenntnisprozess möglichst frei zu halten von den verzerrenden Einflüssen politischer Tagesinteressen und ideologischer Gesichtspunkte“.[3] Es ist schon erstaunlich, dass das gerade in der Soziologie, wenigstens an einigen Stellen immer einmal wieder und institutionell keineswegs nur marginal, in Vergessenheit gerät, und sei es in der Form, dass die mehr oder weniger versteckten Wertungen und Ziele mit wissenschaft­lich unhaltbaren Argumenten und, nach den Regeln der Theorie­prüfung, fahrlässig verzerrten oder auch falschen empirischen Befunden zu platz­ieren versucht wird. Und das dies auch durchgeht. Die soziologische Ungleichheitsforschung ist derzeit ein besonders gravierendes Beispiel dafür.

Das bringt uns zurück zu einem strengeren Verständnis des Kritischen Rationalismus. Das Konzept der heuristischen Offenheit bedeutet nämlich keinen Freibrief, schon gar nicht des „Anything Goes“: Gerade Brücken sind, wenn man nicht aufpasst, äußerst fragil, und man muss, sozusagen, zehn Bälle gleichzeitig in der Luft halten. Das Modell der soziologischen Erklärung, wie es sich im Rahmen des Kritischen Rationalismus, auch unter Zutun von Hans Albert und seinen Schülern, allmählich entwickelt hat, ist ein gutes Beispiel dafür, besonders dafür, dass es ohne eine gewisse Komplexität nicht geht und allein das viele Freiheitsgrade für dann aktuell nicht weiter begründbare Entscheidungen in der praktischen Forschung belassen muss. Aber auch, dass man trotzdem nicht aufzugeben braucht oder sich in immerwährenden philosophischen Zweifeln verlieren muss. Das Charakteristikum des Modells der soziologischen Erklärung sind, bekanntlich, schon in der einfach­sten Form, drei Übergänge: Makro auf Mikro, Mikro auf Mikro und Mikro auf Makro wieder – und das in Sequenzen der Prozess­ualität „strukturell gekoppelt“. Allein das zwingt zu Brückenüberlegungen. Man könnte es sich freilich ersparen, und viele Ansätze in der Soziologie tun das (faktisch): Autonomie, Systemgesetze mit Formeln wie der von der „Autopoiesis“, Verzicht auf jedwede Erklärung des Handelns, die Konzentration auf eine fixierte Vermutung, wie die der sogenannten Praxistheorien einerseits oder der axiomatisierten Theorie des rationalen Handelns andererseits, besonders aber auch die Trivialisierung des Emergenz­problems beim Mikro-Makroübergang, wie das in Konzepten der Soziologie als „populations science“ vorgeschlagen wird, in denen einfache statistische Aggregationen von Variablenbeziehungen, etwa der Ungleichheit, alles sind, was man sich an Soziologie vorzustellen vermag.

In allen drei Übergängen geht es um Überbrückungen, die jede für sich nur über Öffnungen nach außen möglich werden, aber auch sich gegenseitig wieder begrenzen. Beim ersten Übergang schon, bei der „Logik der Situation“ also, wird das mehr als deutlich: Die soziale Struktur auf der Makroebene muss theoretisch auf die Mikroebene umgesetzt (und gemessen) werden, wobei die Parameter der jeweils angewandten Mikrotheorie zwingend festlegen, über welche Konstrukte und kausalen Zusammenhänge das geht: Kenne ich nur die „Praxen“, den Habitus und die Praxistheorie ist das etwas anderes als für Werte und Erwartungen in der SEU-Theorie des rationalen Handelns. Und für das „kreative“ Handeln sähe es wieder anders aus: Zufall und allenfalls nachträgliche Rationalisierung. Alles wäre natürlich denkbar und an alles müsste auch gedacht werden, nichts darf ausgeschlossen, nichts überbügelt werden: weder „Autopoiesis“ mit den „psychischen Systemen“ als Marionetten, aber auch keine sakrosankte Situations­logik der Strukturen oder der Rationalität als Mikrofundierung. Das lässt sich nur durchhalten, wenn die Augen aufgrund der Abschottung der wissenschaft­lichen Milieus verschlossen bleiben. Aber das Innehalten und der beständige Zweifel allein sind es auch nicht allein: Man muss schließlich doch wieder etwas auf den Tisch legen. Und dann wird es wieder anders. Das ist nicht leicht durchzuhalten.

Der so als offene methodologische Heuristik verstandene Kritische Rationalismus ist, wie man sieht, eine Mischung aus Öffnung und Begrenzung, mit Beliebigkeit hat das nichts zu tun. Karl R. Popper hat sich zu dieser Mischung nur schwer durchringen können, wenn überhaupt, bei Hans Albert war das anders. Er war Sohn eines Studien­rats für Latein und Geschichte in Köln, und das war wohl das Betriebs­kapital für jene interessante Mischung aus katholisch-distanzierter Nachsicht, speziell in ihrer rheinischen Variante, und quasi-protestantischer Strenge, die sich unter dem Titel „Meine Version des Kritischen Rationalismus“ dazu nachlesen lässt.[4]. Man hat sein Konzept auch „Rationalen Kritizismus“ genannt. Treffender noch wäre, jedenfalls für jene, die ihn kennen gelernt und sprechen gehört haben, der Ausdruck „Rheinischer Kritizismus“.

Hans Albert hat dieses Konzept auch in Stil und Umgang stets vorgelebt, immer mit einem etwas hochnäsig-ironisierenden Gesichtsausdruck, wenn es darauf ankam. Mich persönlich hat es auch einmal getroffen.[5] Nach dem Wechsel auf seinen Lehr­stuhl in Mannheim haben wir uns natürlich öfter gesehen, auch einmal parallel und nicht abgesprochen in der Zeitschrift für Soziologie 1986 einen wirklich eigenartigen, aber für die übliche Fremdwahrnehmung typischen Beitrag von Norbert Elias über den Kritischen Rationalismus und Karl R. Popper als „weltfremden Philosophen“ gemeinsam aufgegriffen und zurechtgerückt. Und 1996 hat er mich, wohl als erstes Anzeichen der Warnung, nicht zu weit zu gehen mit meiner Offenheit, mit Niklas Luhmann in Alpbach zu dem jährlichen Treffen von Nobelpreisträgern mit dem entsprechenden Auflauf aus aller Welt für eine Woche zusammengesperrt. Das war alles vollkommen in Ordnung, auch wenn es manchmal gewisse Streitpunkte gab, die sich daraus ergaben, dass eine Methodologie der Soziologie noch etwas anderes ist als das, was man bei Theoriebildung und empirischer Prüfung zu beachten hat, etwa, dass man nicht alles gleichzeitig kontrollieren kann und dass deshalb ein gewisser „Instrumentalismus“ und „Konventionalismus“ unvermeidlich sind.

Aber auch die Bemühungen um eine „hermeneutisch-verstehende“ Integration sind ihm nicht verborgen geblieben: Die (schrittweise) Erweiterung der Konzeption einer streng analytisch-empirisch-kritisch-rationalen Soziologie über gewisse Verengungen der Anwendung der ökonomischen Theorien hinaus, etwa die Aufnahme auch interpretativer Konzepte und qualitativer Formen soziologischer Theorie und Analyse in den Kontext einer wirklich allgemeinen Theorie des sozialen Handelns. So hatte er sich die „Einheit der Gesellschafts­wissenschaften“ wohl nicht vorgestellt. Er hat das vielmehr, wie andere, als eine – unnötige bis gefährliche – Aufweichung verstanden, verursacht seiner Meinung nach durch ein allzu weites Herz und entschieden zu viel Verständnis für alle Fehltritte. Von Heuristik, Brückenbau und Offenheit war damals nichts zu spüren. Und er hat mich, leider im vollen Seminar, als den Eugen Drewermann der Soziologie bezeichnet. Zum Glück kam das im rheinischen Tonfall, seinem etwas spöttisch-abwägenden Blick und bei den üblichen sechs, teilweise nicht mehr vollen, Flaschen Pfälzer auf dem Tisch des Seminarraumes, so dass man als etwas ferner Stehender nicht unbedingt mitbekommen musste, dass das gerade eine seiner gefürchteten chinesischen Hinrichtungen gewesen ist: unmerklich, schmerzlos, den Zweck erfüllend. Ich habe es überlebt. Hans Albert wird uns allen fehlen. Es gäbe mehr als genug für ihn zu tun.


[1] Der Verfasser dankt Gert Albert für wichtige Hinweise, die den Nachruf in seiner bewusst ganz eigenen Richtung weiter unterstützen konnten.

[2] Volker Gadenne, Rationale Heuristik und Falsifikation. In: ders. /Hans Jürgen Wendel (Hrsg.), Rationalität und Kritik, Tübingen 1996, S. 57–78.

[3] Hans Albert, Theorien in den Sozial­wissenschaften. In: ders. (Hrsg), Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschafts­lehre in den Sozial­wissenschaften, 2. veränderte Auflage, Tübingen 1972, S. 3–25, hier: S. 21.

[4] Hans Albert, Meine Version des Kritischen Rationalismus. In: ders. (Hrsg), Kritische Vernunft und rationale Praxis. Tübingen 2011, S. 1–6, hier S. 1.; Hans Albert, Kritizismus und Naturalismus. Die Überwindung des klassischen Rationalitäts­modells und das Überbrückungs­problem. In: ders. (Hrsg.), Kritische Vernunft und rationale Praxis. Tübingen 2011, 7–26, hier S. 17f. Vgl. den ausführlicheren Bericht, aus dem die folgende Passage stammt: Hartmut Esser, Eugen Drewermann und der Rheinische Kritizismus. In: Giuseppe Franco (Hrsg.), Begegnungen mit Hans Albert. Wiesbaden 2018, S. 103–107.


* Die Veröffentlichung erschien zuerst in Soziopolis am 13.11.2023. Die Publikation auf dieser Webseite erfolgt mit Genehmigung der Herausgeber:

https://www.soziopolis.de/ueber-viele-bruecken-kanns-nur-gehn.html


Weitere Informationen

Nachruf auf Prof. Dr. Hans Albert der Universität Mannheim: https://www.uni-mannheim.de/news/trauer-um-professor-dr-hans-albert/

Website des Hans-Albert-Instituts: https://hans-albert-institut.de

Laudatio zum 100. Geburtstag 2020: https://www.uni-mannheim.de/newsroom/100-jahre-hans-albert/#c230034

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