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Nachruf für Prof. Wolfgang von Hippel

Sylvia Schraut / Bernhard Stier

Wolfgang von Hippel

(28. August 1936 – 2. März 2024)

Am 2. März 2024 verstarb in Heidelberg nach längerer Krankheit Wolfgang von Hippel, pensionierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Mannheim und langjähriges Mitglied der Kommission für geschichtliche Landes­kunde. Mit ihm verlieren die landes­geschichtliche Forschung einen produktiven und überaus vielseitigen Wissenschaft­ler, seine Kollegen einen kompetenten, engagierten und rundum integren Diskussions­partner.

Nach dem Studium der Fächer Geschichte, Latein und Germanistik in Freiburg und Göttingen, dem Staats­examen (1961) und noch vor der Anfang 1965 in Freiburg erfolgten Promotion übernahm von Hippel eine Assistentenstelle bei Günther Franz am Institut für Agrargeschichte der Landwirtschaft­lichen Hochschule Hohenheim. Seit Ende 1965 war er als Bearbeiter eines von Werner Conze angeregten, bei der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Projekts über die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, ab Wintersemester 1967/68 als dessen Assistent in Heidelberg – zunächst am Historischen Seminar, später an Conzes Institut für Sozial- und Wirtschafts­geschichte – tätig und habilitierte sich hier im Sommersemester 1973. Zum Sommersemester 1974 wurde er an die Universität Mannheim berufen und vertrat am Historischen Institut das Fach mit dem Schwerpunkt Sozialgeschichte bis zu seiner Pensionierung im Herbst 2001. Seit 1979 war er ordentliches Mitglied der Kommission für geschichtliche Landes­kunde in Baden-Württemberg; von 1985 bis 1999 gehörte er ihrem Vorstand an.

Die wissenschaft­liche Laufbahn von Hippels begann mit der bei Erich Hassinger angefertigten Dissertation über den konservativen badischen Bundestagsgesandten und Außen­minister Friedrich Landolin Karl von Blittersdorf (1792–1861) und die Landtags- und Bundes­politik des Großherzogtums im Vormärz. Mit dieser Arbeit war eine Epoche – nicht jedoch ein Thema oder eine Methode – definiert, zu welcher der Autor in den folgenden Jahrzehnten noch mehrfach zurückkehren sollte. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb eines seiner bevorzugten Forschungs­gebiete, und er beschäftigte sich aus unter­schiedlichen Perspektiven immer wieder mit dieser ihn faszinierenden Epoche der Über­gänge und Aufbrüche. Ergebnis waren u. a. eine Quellensammlung zur Wahrnehmung der Französischen Revolution in Deutschland (1989), eine Geschichte des Eisenbahnbaus in Baden (1990) und eine Darstellung der Revolution von 1848/49 im Großherzogtum (1998), verschiedene Aufsätze zur Geisteswelt des südwestdeutschen Frühliberalismus sowie schließlich der großangelegte Band des „Handbuchs der Geschichte Europas“ über „Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850“ (2012).

Die 1977 in zwei umfangreichen Bänden erschienene, aus Darstellung und Quellenedition bestehende Habilitations­schrift über die Bauernbefreiung in Württemberg ordnet sich zeitlich ebenfalls hier ein. Aber während die Dissertation thematisch und methodisch noch dem damaligen politik- und ideengeschichtlichen ‚Mainstream‘ verpflichtet war, erfolgte mit dieser Arbeit eine deutliche Schwerpunktverlagerung zu wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragen. Sie wurde angeregt durch die Tätigkeit an Conzes Institut, damals eines der Innovations­zentren für die inhaltliche wie theoretisch-methodische Erneuerung der Geschichts­wissenschaft und – auch das sollte für von Hippel bald von Bedeutung sein – ihre Hinwendung zur industriellen Welt. Ein gleich­zeitig aufgenommenes Studium der Volkswirtschafts­lehre veranschaulicht sein zunehmendes Interesse für die ökonomischen Dimensionen gesellschaft­licher Prozesse und schuf die Grundlage, Geschichte und Wirtschafts­wissenschaft zu verbinden.

Im Kontext der Habilitation entstanden zunächst noch umfangreiche Unter­suchungen zur Sozialgeschichte Südwestdeutschlands am Über­gang zwischen traditionaler Gesellschaft und Moderne, insbesondere zum Pauperismus­problem sowie zur damit verbundenen und in einer Monographie bearbeiteten Geschichte von Auswanderung und Auswanderungs­politik in Württemberg im 18. und 19. Jahrhundert (1984). Aber bereits seit Anfang der 1970er Jahre beschäftigte sich von Hippel immer stärker mit dem Großthema Industrialisierung, Arbeiterschaft und Urbanisierung. Den Rahmen dafür bildete ein gegen Ende der 1960er Jahre wiederum durch Conze initiierter, von der Deutschen Forschungs­gemeinschaft geförderter Schwerpunkt zu den sozialen Implikationen des Industrialisierungs­prozesses während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts am Beispiel des mittleren Neckarraums. Zunächst noch in Heidelberg, später am Mannheimer Historischen Institut und mit etlichen eigenen Drittmittel­projekten innerhalb des Förderschwerpunkts sowie eines anschließenden Programms über den Wandel der Familienstrukturen im Modernisierungs­prozess arbeitete er intensiv zu diesem Themen­bereich. Dabei verwendete er bereits früh EDV-gestützte quanti­fizierende Methoden zur Bewältigung großer Bestände an Massendaten und zu ihrer statistischen Auswertung.

Zu einem Schwerpunkt seiner Forschungen über Industrialisierung und Urbanisierung wurde dann aus naheliegenden Gründen des Zugangs zu den Archiven Mannheim, vor allem aber Ludwigshafen. Mit dieser Stadt, die vor der Haustür der Universität umfangreiche Quellenbestände und Anschauung zum Thema bot, sollte er sich in den folgenden Jahrzehnten wiederholt beschäftigen, sei es in Aufsätzen über Migrations­prozesse und Bevölkerungs­struktur oder über die Entwicklung der Wohn­verhältnisse, in einer Geschichte des Städtischen Klinikums (1992), einem ausführlichen Kapitel der Jubiläums-Stadtgeschichte über Ludwigshafen im Kaiserreich (2003), einem ebensolchen, zweiteiligen und quasi-monographischen Aufsatz über die Arbeiterschaft der BASF (2002/2003) in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, in einem Buchbeitrag über die Anfänge dieses Welt­unter­nehmens (2015) oder in einer zweibändigen kommentierten Quellensammlung zur Alltagsgeschichte der amerikanisch-expansiven ‚Chemiestadt‘ am Oberrhein um 1900 (2009).

Ein weiteres Interessengebiet von Hippels bildete die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit. Neben Publikationen zur Gesellschafts­ordnung wie dem in der Reihe „En­zyklopädie deutscher Geschichte“ erschienenen Band über „Armut, Unter­schichten, Rand­gruppen in der Frühen Neuzeit“ (1995) entstanden vor allem Grundlagenwerke zur Wirtschafts­geschichte und -statistik südwestdeutscher Territorien: drei Bände über Maß und Gewicht am Ende des Alten Reiches bzw. in der Reformzeit (1994, 1996, 2000) sowie zwei im Rahmen des DFG-Forschungs­schwerpunkts „Historische Statistik“ erarbeitete Quellenwerke zur Statistik des Herzogtums Württemberg im 16. und 17. Jahrhundert (beide 2009). Eine umfangreiche, weitgehend ausgearbeitete Statistik der Kurpfalz im 18. Jahrhundert kam nicht mehr zur Publikation, ebenso eine begonnene Quellensammlung zur Geschichte der 1848er Revolution in Baden sowie die Edition der preußischen Gesandtschafts­berichte aus Karlsruhe während des Vormärz und der Revolution. Zuletzt legte von Hippel eine monumentale, aus staatlichen Akten, Unter­nehmens- und Privatüberlieferung erarbeitete Biographie des saarländischen Stahlindustriellen Hermann Röchling (1872–1955) vor (2018).

Das in 50 Jahren entstandene, beeindruckend breite und perspektivenvreiche Werk von Hippels umfasst Forschungen zur traditionalen Gesellschaft wie zur modernen industriellen Zivilisation, Spezialforschung wie den zusammenfassenden Über­blick und reicht von quanti­fizierend-statistischen Grundlagenarbeiten bis zur großen Synthese. Ob Wirtschafts- oder Unter­nehmens­geschichte, politische Sozialgeschichte oder Biographie – hervorstechende Kennzeichen sind eine prägnante, stets um Anschaulichkeit und Verständlichkeit bemühte Darstellung, die gleich­zeitig der Vieldimensionalität von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gerecht wird, sowie vor allem eine solide, auf ebenso breitem wie gründlichem Quellenstudium basierende Empirie. Sie schlug sich nicht zuletzt im Umfang der entstandenen Monographien und Aufsätze nieder. Die Konzentration auf den deutschen Südwesten ergab sich für den unermüdlichen Archivbesucher, der sich ein Forscherleben lang mit Fleiß und Begeisterung durch Berge von Akten arbeitete, aus praktischen Gründen des Zugangs zu den Quellen; sie bot zudem Anschaulichkeit für allgemeine Strukturen, Entwicklungen und Probleme. Ein gutes Beispiel dafür ist der 300 Druckseiten umfassende Abschnitt zur „Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1800–1918“ im Handbuch der baden-württembergischen Geschichte (1992).

In der quellen­orientierten, um sachliche Empirie bemühten Arbeits­weise, die etliche Grundlagenwerke für künftige Forschungen lieferte, ist eine Skepsis gegenüber Theorielastigkeit und den Strömungen des wissenschaft­lichen „Zeitgeists“, noch mehr gegenüber ideologischer Voreingenommenheit und vorschneller Bewertung zu erkennen. Den historischen Bedingungen und den handelnden Akteuren gerecht zu werden, sich bei klarer Benennung und Analyse widerstreitender Interessen um ein ausgewogenes Urteil zu bemühen, so lässt sich die Grundstimmung in von Hippels Werk beschreiben. Dazu gehörten für ihn immer Behutsamkeit und Zurückhaltung sowie das Bemühen, in einem Konflikt beide Seiten zu verstehen, nicht zuletzt auch die Selbstreflexion und Selbstkritik des Urteilenden: „Bloß kein Sendungs­bewusstsein“ lautete eine oft wiederholte Mahnung in der wissenschaft­lichen Diskussion. In der großen Röchling-Biographie scheint diese Einstellung als zurückhaltend-verständnisvolle Beschränkung auf die Präsentation der „Facetten eines Lebens“ durch, aber sie schloss die – selbstverständlich immer aus den Quellen begründete und zur Diskussion gestellte – persönliche Stellungnahme nicht generell aus: So ist in von Hippels Arbeiten zum Vormärz und zur 1848er Revolution eine Präferenz für gemäßigt liberale Positionen und Lösungen sowie für die behutsame Modernisierung des politischen Systems bei gleich­zeitig deutlicher Kritik an den Modellen und Methoden des radikaldemokratisch-republikanischen Flügels erkennbar. Das entsprach seinem persönlichen Naturell und seiner – bei aller Anerkennung der Notwendigkeit von Reform und Weiter­entwicklung – tendenziell liberalkonservativen Grundeinstellung, seinem Glauben an die Möglichkeit des vernünftigen Interessenausgleichs und seiner Hoffnung auf allmählichen friedlichen Fortschritt.

Diese Haltung galt nicht nur für den urteilenden Historiker, sondern auch für den Kollegen an der Universität und für den Hochschul­lehrer, ja für die ganze Person. Hinzu kam eine außerordentliche persönliche Bescheidenheit. Konzentration auf die wissenschaft­liche Arbeit ging für ihn vor öffentlicher Sichtbarkeit und Wirksamkeit – Selbstdarstellung und der große Auftritt, das war nicht von Hippels Sache, Hochschul­politik jenseits des mehrfach übernommenen Dekanats oder gar ‚Netzwerken‘ noch weniger. Statt dessen ackerte er lieber im Archiv, und nicht zuletzt deshalb empfand er die Pensionierung als endgültige Befreiung zum ungehinderten Forschen und Schreiben. Auch unter Studierenden und Mitarbeitern empfand sich von Hippel, streng auf das jeweils diskutierte Thema bezogen, nur als Gleich­gesinnten unter anderen Wissenschafts­begeisterten. Die Vorstellung eines patriarchalischen Verhältnisses hätte er entschieden abgelehnt, und er wirkte zuallererst durch das Beispiel seiner eigenen Professionalität und Gelehr­samkeit.

Dazu gehörte auch eine forschungs­nahe und selbstverständlich quellenintensive Lehre, die sich überwiegend an seinen jeweiligen Themen und Forschungs­projekten orientierte und im Profil des Historischen Instituts einen deutlichen Akzent setzte. Den von ihm betreuten Examenskandidaten, Doktoranden und Habilitanden ließ von Hippel alle Freiheit, wenn er von ihren Themen überzeugt war, unter­stützte durch Einwerbung von Drittmittel­projekten oder Stipendien und wirkte als Ratgeber, der aus einem großen Vorrat an Erfahrung schöpfen konnte. Außerhalb des Universitäts­betriebs bildeten Kolloquien, Exkursionen und Seminareinladungen über Jahre hinweg eine feste Einrichtung im Haus von Hippels. Hier und im Schwarzwälder Refugium am Schauinsland, wohin er in den Semesterferien mit der Familie und einem Koffer voller Bücher aufbrach, wurden die ererbten Traditionen des deutschen Bildungs­bürgertums gepflegt und der Geist einer Familie mit langer akademischer, vor allem juristischer Vorgeschichte gelebt. So, in diesem Rahmen und darin als unermüdlicher und produktiver Forscher, als interessierter und offener Zuhörer, als geistreicher Gesprächs­partner mit feinsinnigem Humor wird er seinen Kollegen, ehemaligen Studierenden und Freunden in Erinnerung bleiben.

Sylvia Schraut / Bernhard Stier

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