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Interview mit ArbeiterKind Mannheim

Im Interview gibt Simon Hohnwald von der Initiative ArbeiterKind Einblicke in die Bildungs­arbeit der Initiative ArbeiterKind. Mit Schulbesuchen, persönlichen Erfahrungs­berichten und Infos zu BAföG, Stipendien und Studien­alltag ermutigt die Initiative gezielt Schüler*innen aus nicht-akademischen Familien, ein Studium in Betracht zu ziehen.

Wie kam es zu der Gründung eurer Initiative? 

Die Organisation ArbeiterKind ist eine bundes­weite Initiative, die 2008 von Katja Urbatsch ins Leben gerufen wurde. Sie war selbst die Erste in ihrer Familie, die studiert hat. Im Studium merkte sie, wie stark Menschen aus Akademikerfamilien im Vorteil sind: Einfach weil sie mehr Wissen mitbringen, mehr Unter­stützung bekommen und oft durch ihre Familie schon wissen, wie so ein Studium abläuft. Ihr Ziel war es, andere Menschen aus nicht-akademischen Familien zu ermutigen, ein Studium aufzunehmen. ArbeiterKind bietet dafür niedrigschwellige Informationen an, meistens in einem informellen Rahmen, und möchte einfach Lust machen und Mut geben, diesen Weg zu gehen. Heute zählt ArbeiterKind rund 6000 Ehrenamtliche deutschland­weit. Unsere Initiative hier an der Universität Mannheim ist ein regionaler Ableger davon. Wir sind informell organisiert, also kein Verein oder so, sondern einfach eine lose Gruppe die überwiegend, aber nicht nur, aus Studierenden besteht, die sich ehrenamtlich für die Mission von Arbeiterkind einsetzt.

Was bedeutet in dem Zusammenhang eigentlich „informell organisiert“? Wie kann man sich das konkret vorstellen?

Bei uns heißt das praktisch: Der Hauptkommunikations­kanal ist eine WhatsApp-Gruppe. Darüber läuft fast alles, was die Organisation im Alltag betrifft. Und dann gibt es zweimal im Monat offene Treffen, immer am ersten und dritten Montag um 19:30 Uhr per Zoom. Früher waren diese in Präsenz, aber inzwischen finden sie komplett über Zoom statt. Diese Treffen sind im Grunde das Herzstück unserer Gruppe. Darüber entstehen Austausch, Projekte, Ideen – also die eigentliche Organisation. Einen Vorstand oder offizielle Ämter haben wir nicht. Das macht den Einstieg einfach, weil man einfach dazukommen kann, ohne sofort Verantwortung übernehmen zu müssen. Natürlich bringt das auch Herausforderungen mit sich. Es gibt keine festen Zuständigkeiten, was manchmal zu Unklarheiten führt. Andere Initiativen sind da sicher strukturierter – vielleicht sogar besser organisiert. Aber für uns funktioniert es gut, gerade weil es offen und unkompliziert ist.

Wie gestaltet sich dadurch eure Projekt­organisation? Und an welchen Projekten arbeitet ihr aktuell konkret?

Das Herzstück unserer Arbeit sind Schulbesuche. Organisatorisch wird das vor allem von einem Gerhard Held übernommen, der selbst Arbeiterkind ist – inzwischen schon im Ruhestand und hier in Mannheim verwurzelt. Er ist unser fester Ansprech­partner für die Schulen in der Umgebung. Viele Schulen kennen ihn bereits, sie haben seine Kontaktdaten und wenden sich direkt an ihn, wenn sie Interesse an einem Besuch haben. Diese Schulbesuche laufen meistens so ab, dass ein kleines Team von uns – je nach Veranstaltung zwei bis fünf Personen – an die Schule fährt und dort verschiedene Kurzvorträge hält. Die Themen sind zum Beispiel: Wie funktioniert ein Studium überhaupt? Wie sieht der Alltag im Studium aus? Welche Finanzierungs­möglichkeiten gibt es, also zum Beispiel BAföG oder Stipendien? Ich würde sagen, im Schnitt machen wir ein bis zwei Schulbesuche pro Monat. In den Ferien ist es weniger, aber es gibt auch Phasen, in denen mehrere Termine recht nah beieinanderliegen. Die Schulklassen, die wir besuchen, sind meistens kurz vor dem Abschluss – also zehnte bis zwölfte Klasse. Hauptsächlich sind es derzeit Gymnasien, einfach weil dort der Gedanke ans Studium direkter präsent ist. Aber es gab auch schon Besuche an Realschulen. Das ist auf jeden Fall das Projekt, das den größten Teil unserer Aktivitäten ausmacht. Es ist auch das, wo wir merken, dass wir wirklich konkret etwas bewegen können – durch persönliche Gespräche, Erfahrungs­berichte und ganz praktische Infos.

Welche Visionen oder Ziele verfolgt ihr generell mit euren Projekten – beispielsweise den Schulbesuchen?

Unsere langfristige Vision oder das Idealbild, das uns vorschwebt, ist ein Bildungs­system, in dem die soziale Herkunft nicht über die Zukunft eines Menschen entscheidet – also echte Chancen­gleich­heit für alle. Im Kern geht es uns darum, dass der familiäre Hintergrund, also die sozio­ökonomischen Verhältnisse, nicht darüber bestimmen, ob jemand ein Studium aufnimmt oder nicht. Wenn man das weiterdenkt, gehören zur Herkunft ja nicht nur finanz­ielle oder bildungs­bezogene Faktoren, sondern zum Beispiel auch geografische Aspekte oder Migrations­geschichten. Unser Ziel ist es also, Strukturen zu verändern – oder zumindest zu hinterfragen – die bestimmte Gruppen benachteiligen. Mit unseren Projekten setzen wir deshalb auf Aufklärung, Empowerment und den Abbau von Unsicherheiten. Idealerweise begleiten wir junge Menschen langfristig – also von der Schulzeit bis hinein ins Studium. Das ist natürlich ein hoher Anspruch. In der Realität entstehen aus Schulbesuchen zwar nicht immer direkte, dauerhafte Kontakte. Aber der unmittelbare Effekt ist oft schon sehr wertvoll: Wir machen Mut, überhaupt über ein Studium nachzudenken. Viele hören bei uns zum ersten Mal von BAföG oder Stipendien – oder erleben einfach, dass jemand vor ihnen steht, der selbst aus einem ähnlichen Umfeld kommt und es geschafft hat. Und allein das kann manchmal schon einen Unter­schied machen.

Was denkst du, sind die Schlüsselpunkte, an denen man ansetzen muss, um die Barrieren für Menschen aus nicht-akademischem Elternhaus abzubauen?

Ein ganz großer Punkt ist definitiv die Studien­finanzierung. Da gibt es oft viele Vorbehalte und Unsicherheiten – gerade was BAföG betrifft. Viele glauben, das sei eine riesige bürokratische Hürde. Dabei sind viele überrascht, wenn wir erklären, dass die Hälfte des BAföG geschenkt ist und die andere Hälfte ein zinsfreies Darlehen. Ähnlich ist es bei Stipendien: Da denken viele, die seien nur für Über­flieger. Das stimmt aber nicht. Gerade wer aus einem Milieu kommt, in dem Studieren nicht selbstverständlich ist, hat oft gute Chancen auf ein Stipendium. Diese Er­kenntnis versuchen wir den Leuten mitzugeben. Neben den finanz­iellen Hürden gibt es vor allem eine große emotionale Barriere: Für viele ist das Studium einfach eine unbekannte Welt, weil sie niemanden im Umfeld haben – weder Eltern noch Geschwister oder Freund*innen –, die ihnen Einblick geben könnten. Das macht es schwer, sich überhaupt mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich glaube, genau an diesen beiden Punkten – finanz­ielle Klarheit und Zugänglichkeit zur Hochschul­welt – setzen wir mit unserer Arbeit an.

Wenn ich das richtig verstehe, liegt euer Fokus auf den Schulbesuchen. Verfolgt ihr daneben noch andere Projekte?

Ja, der Schwerpunkt liegt klar auf den Schulbesuchen. Aber grundsätzlich verstehen wir uns auch als Anlaufstelle für alle, die sich fürs Studium interessieren – also auch für Leute, die nicht mehr im Schul­system sind oder schon studieren. Wir hatten zum Beispiel mal jemanden mit Fluchthintergrund, der zu einem offenen Treffen kam, weil er uns online gefunden hatte. Er stand gerade vor der Entscheidung: Studium oder Ausbildung? Für solche Fälle sind wir natürlich auch offen. Aber ehrlich gesagt: Der Großteil unserer Aktivitäten konzentriert sich derzeit auf die Schulbesuche. Unsere Präsenz an der Uni selbst oder an anderen Hochschulen ist ausbau­fähig. Gleich­zeitig sehen wir unsere Hauptaufgabe eben darin, überhaupt erstmal den Zugang zum Studium zu erleichtern. Wer diesen Schritt schon gegangen ist, hat oft die größte Hürde bereits genommen.

Wie finanz­iert ihr eure Projekte, wenn ihr bestimmte Aktionen durchführt? Habt ihr besondere Unter­stützerinnen und Unter­stützer?

Die Finanzierung läuft vor allem über die Dach­organisation, also die bundes­weite Struktur von ArbeiterKind. Diese wird hauptsächlich durch Spenden und öffentliche Projekt­förderung getragen – zum Beispiel vom Bundes­ministerium für Bildung und Forschung, über Stiftungen oder durch private Förderinnen und Förderer. Es gibt auch Programme auf Bundes­ebene oder in anderen Regional­gruppen, die direkt über Kooperationen mit Hochschulen oder Kommunen finanz­iert werden. Hier vor Ort in Mannheim ist das aber nochmal eine andere Geschichte. Unsere Arbeit ist ziemlich niedrigschwellig organisiert – wir haben eigentlich so gut wie keine Ausgaben. Was wir machen, ist im Prinzip reine Manpower. Für unsere Schulbesuche brauchen wir kein großes Material, keine Räume oder Technik. Und wenn wir irgendwo hinfahren, zahlen wir unser Straßenbahnticket einfach selbst. Deshalb entsteht bei uns auf lokaler Ebene gar nicht so viel, was finanz­iell abgefedert werden müsste. Das macht es einerseits unkompliziert, aber natürlich wäre es auch schön, perspektivisch mal kleine Mittel zu haben – zum Beispiel für Öffentlichkeits­arbeit oder Fahrtkosten. Aber im Moment kommen wir gut zurecht.

Welche Aufgaben kann man denn übernehmen, wenn man Teil eurer Initiative wird?

Grundsätzlich sind unsere Schulbesuche ja der Kern, und da kann man schon ab dem ersten offenen Treffen mitmachen – ganz ohne Expertise. Man muss kein Stipendiat oder Spezialist sein, um einen Beitrag zu leisten. Oft reicht es schon, die eigene Geschichte zu erzählen und zu zeigen, wie man selbst den Weg an die Uni gefunden hat. Das inspiriert viele. Außerdem sind wir nicht nur in Schulen aktiv, sondern auch auf Berufsbildungs­messen und ähnlichen Veranstaltungen – teils von Schulen, teils von der Agentur für Arbeit organisiert. Da kann man auch mal für ein oder zwei Stunden an einem Stand mitwirken und als Ansprechperson da sein. Neben den öffentlichen Aktionen gibt es auch interne Aufgaben: Wir treffen uns regelmäßig, schreiben Protokolle, jemand bereitet Präsentationen vor und wir geben als akkreditierte Uni-Initiative zweimal im Semester Berichte über unsere Aktivitäten ab. Aber wichtig ist: Man muss nicht sofort Verantwortung übernehmen oder direkt bei Schulbesuchen dabei sein. Wer Interesse hat, kann gerne erstmal zum offenen Treffen kommen, zuhören und schauen, ob es passt. 

Gibt es einen Moment oder ein Projekt, bei dem du gemerkt hast: Ja, das, was wir hier machen, hilft wirklich anderen Menschen?

Wir kommen da nochmal auf die Schulbesuche zurück, weil das ein zentraler Teil unserer Arbeit ist. Besonders stolz sind wir immer dann, wenn wir merken, dass wir echtes Interesse geweckt haben. Das zeigt sich oft am Ende der Veranstaltung, wenn die Schüler*innen anfangen, Fragen zu stellen, die sie vorher vielleicht niemandem gestellt haben. Es ist gar nicht so einfach, so eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle trauen, wirklich alles zu fragen – ohne Angst, dass es eine „dumme“ Frage sein könnte oder dass sie sich vor der Klasse blamieren. Wenn das gelingt und die Schüler*innen offen über ihre Ideen für die Zeit nach dem Abschluss sprechen, sind wir wirklich zufrieden. Was unsere Initiative, glaube ich, besonders macht, ist dass wir generationen­übergreifend arbeiten. Unter unseren Ehrenamtlichen sind Leute, die ihr Studium schon lange abgeschlossen haben und längst im Berufsleben stehen – teilweise in sehr anspruchsvollen Jobs. Trotzdem engagieren sie sich, weil es ihnen wirklich am Herzen liegt, anderen den Weg zu erleichtern.

Wie würdest du die Atmosphäre bei euch beschreiben? 

Es gibt ab und zu Treffen außerhalb der Arbeit, zum Beispiel haben wir uns mal auf dem Weihnachts­markt getroffen, um einfach gemeinsam Zeit zu verbringen. Aber ehrlich gesagt sind wir keine große Freundes­gruppe, sondern vor allem durch die Initiative verbunden. Trotzdem verstehen wir uns alle sehr gut und die Atmosphäre ist offen, inklusive und wertschätzend. Weil wir keine feste Hierarchie ist der Zugang zu unserer Gruppe sehr niedrigschwellig. Wer einmal zu einem Treffen kommt, bleibt meistens dabei, aber es gibt auch keine formellen Hürden oder Verpflichtungen. Man muss sich nicht dauerhaft engagieren, auch wenn regelmäßige Beiträge natürlich schön sind. Die Initiative ist offen für alle, unabhängig vom Studien­gang oder sogar von der Universität. Zwar sind die meisten von der Universität Mannheim, aber wir haben auch Leute, die zum Beispiel in Ludwigshafen studieren. Was uns auch verbindet, ist, dass die meisten von uns aus Arbeiterfamilien kommen. Das schafft eine gemeinsame Basis und ein starkes Gemeinschafts­gefühl.

Wie können Interessierte am besten Teil eurer Initiative werden?

Grundsätzlich können Interessierte uns einfach eine kurze E-Mail an mannheimmail-arbeiterkind.de schreiben oder auf unserer Website nachschauen. Noch unkomplizierter ist es, direkt zu einem unserer offenen Gruppen­treffen zu kommen, die jeden ersten und dritten Montag im Monat um 19:30 Uhr stattfinden. Den Zoom-Link dazu bekommt man am besten über eine kurze Nachricht per E-Mail – wir schicken den dann gerne zu. Wer möchte, kann sich auch direkt bei mir melden, zum Beispiel über LinkedIn oder meine Uni-E-Mail, je nachdem, was am besten passt. Außerdem sind wir meist einmal im Jahr beim Initiativen­markt der Uni vertreten. Was wir besonders betonen wollen: Wir freuen uns sehr, wenn durch so ein Interview oder andere Kanäle mehr Leute auf uns aufmerksam werden und einfach mal vorbeischauen. Da wir sehr informell organisiert sind und die Gruppe durch Studien­wechsel, Auslands­semester oder Abschluss immer wieder wechselt, ist es für uns wichtig, ständig neue Menschen zu gewinnen. Der Aufwand ist gering, aber der Impact, den man dabeihaben kann, ist vergleich­sweise groß.

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