Das Selbst im Spiegel der anderen

Wer bin ich? Und wie finde ich heraus, wer ich bin? Die Reise zum Selbst gehen viele Menschen allein, etwa durch Selbstreflektion oder Tagebuchschreiben. Doch was ist das Selbst eigentlich? In westlichen Gesellschaften wird es meist als das unveränderliche Wesen einer Person verstanden. Ein positives und stimmiges Selbstbild gilt als wichtige Voraussetzung für Wohlbefinden und Autonomie im Leben. Obwohl viele Menschen glauben, dass Selbstfindung am besten durch Reflexion in Isolation gelingt, könnte man auch genau das Gegenteil annehmen: Erst durch den Austausch mit anderen Personen kann man mehr Klarheit über das eigene Selbst bekommen.
Ein internationales Team aus Forschenden ging genau dieser Frage nach und überprüfte in mehreren Studien, ob isolierte Selbstreflexion oder sozialer Austausch zu einem klareren Selbstbild führt. An einer der Studien nahmen 179 niederländische Studierende teil, die gebeten wurden, mit einer befreundeten Person ins Labor zu kommen. Zunächst dachten alle Teilnehmenden isoliert über sich nach. Anschließend erfolgte eine zufällige Zuweisung zu einer von drei Bedingungen: Entweder führten sie ein Gespräch mit der befreundeten Person, mit einer fremden Person (aus einem anderen Freundespaar) oder sie setzten die Reflexion allein fort. Vor und nach dieser zweiten Phase wurden die Klarheit des Selbstbilds sowie das Gefühl von Verbundenheit und sozialer Bestätigung erfasst.
Das Gespräch mit einer anderen Person – unabhängig davon, ob diese befreundet oder fremd war – wirkte sich im Vergleich zur isolierten Reflexion positiv auf das Gefühl von Verbundenheit und sozialer Bestätigung aus. Dadurch wurde wiederum die Klarheit des Selbstbilds gestärkt. Zwei weitere Studien legten ähnliche Schlussfolgerungen nahe. Der Umstand, dass sich dieses Muster auch in Interaktionen mit Fremden zeigt, sollte aber nicht überinterpretiert werden. Die Personen kannten sich zwar nicht, wiesen jedoch in vielerlei Hinsicht Gemeinsamkeiten auf, etwa im Alter und in der Tatsache, dass sie studierten.
Die Studien legen in Summe nahe, dass sich das Selbstbild in sozialen Interaktionen widerspiegelt – es wird gemeinsam entwickelt, bestätigt und dadurch von anderen geteilt und akzeptiert. Dieser soziale Validierungsprozess, der durch isolierte Selbstreflexion schwerer erreichbar scheint, führt letztlich zu einem klareren und stärkeren Selbstbild. Es ist jedoch wichtig, die richtige Balance zu finden: Das Gemeinschaftsgefühl soll das Selbst bestätigen und dadurch festigen, jedoch nicht den Druck erzeugen, sich an andere anpassen zu müssen und sich dadurch wieder zu „verlieren“.
Was zunächst paradox erscheinen mag, scheint auf den zweiten Blick nachvollziehbar: Nicht in Isolation, sondern im Spiegel der Anderen erkennen wir uns selbst am besten, denn sie fördern ein Gefühl von Verbundenheit und Bestätigung und stärken damit unser Selbstbild. Eine erfolgreiche Reise zum Selbst kann also weniger einsam sein, als viele Personen zunächst annehmen würden.
Koudenburg, N., Jetten, J., Enz, K. F., & Haslam, S. A. (2024). The social grounds of personal self: Interactions that build a sense of ‘we’ help clarify who ‘i’ am. European Journal of Social Psychology, 54(6), 1153-1167. https://doi.org/10.1002/ejsp.3070
Redaktion und Ansprechpartner*in¹: Michael Barthelmäs¹, Dominik Stöckle
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