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Michael Diehl – Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften

Nach fast 13 Jahren als Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim verabschiedet sich Prof. Dr. Michael Diehl in den Ruhestand.

Interview mit Prof. Dr. Michael Diehl, Dekan der Fakultät für Sozialwissenschaften 

Wer hat Sie während Ihrer Karriere besonders beeinflusst oder als Mentor geprägt?

Das ist unterschiedlich. Ich habe mein Studium in Regensburg begonnen, bin dann aber nach Marburg gewechselt, da dort das Institut für Psychologie wesentlich besser ausgestattet war – auch mit vielen hervorragenden Wissenschaftlern und Wissenschaflerinnen. Dort gab es einige interessante Persönlichkeiten, die mich beeindruckt haben, aber am meisten Einfluss hatte sicherlich der Sozialpsychologe Wolfgang Stroebe.

Er war damals 31 Jahre alt und kam frisch aus den USA. Es war seine erste Professur. Ich selbst war 21 Jahre alt als wir uns begegneten. Wir hatten schnell viel miteinander zu tun, auch weil er Praktikumsveranstaltungen leitete und ich recht früh eine Hiwi-Stelle bei ihm bekam. Nach meinem Diplom, mit 25 Jahren, bot er mir meine erste volle Stelle an – ein DFG-Projekt. Kurz darauf ging er ins Forschungssemester und er vertraute mir das Projekt komplett an, ganz ohne Vorgaben. Das hat mich sehr beeindruckt: Er traute mir alles zu und ließ mir enorme Freiheiten. Das war natürlich ein Sprung ins kalte Wasser, aber es lief gut.

Damals war die Kommunikation schwieriger – wir haben Briefe geschrieben, da es weder E-Mails noch andere schnelle Wege gab. Aber genau diese Freiheit, die er mir gewährte, hat mich geprägt. Ich konnte von Anfang an selbstständig arbeiten und Entscheidungen treffen. Das hat mich dazu gebracht, später zu sagen: Ich hatte eigentlich nie einen Chef.

Als er einen Ruf nach Tübingen erhielt, bin ich mit ihm gegangen. Wir arbeiteten dort über viele Jahre eng zusammen, auch in der Anwendungsforschung. Ich habe bei ihm promoviert und er war der Mentor für meine Habilitation. Insgesamt haben wir etwa 16 oder 17 Jahre zusammengearbeitet. Diese Zeit hat mich maßgeblich geprägt.

Wie gestaltete sich Ihr weiterer Werdegang?

Nachdem ich mit meinem Mentor nach Tübingen gegangen war, hatte ich dort eine ganze Stelle am Institut. Die Arbeit war durchaus herausfordernd, besonders durch eine Lehrveranstaltung, die ich völlig eigenständig betreuen musste – ein sogenanntes Beobachtungspraktikum. Es lief über zwei Semesterwochenstunden mit sechs Parallelgruppen. Das war ziemlich fordernd, aber auch eine große Lernchance.

Ich blieb lange in Tübingen, im Wesentlichen bis zu meiner Habilitation 1991. 1993 erhielt ich einen Ruf nach Mannheim, kehrte jedoch zwei Jahre später nach Tübingen zurück, um die Nachfolge meines Mentors anzutreten, der zwischenzeitlich nach Utrecht gewechselt war.

Diese Rückkehr zeigt ein Muster in meinem akademischen Weg: Sowohl in Tübingen als auch in Mannheim war ich jeweils zweimal tätig. Diese beiden Stationen sowie die Ausbildungszeit in Regensburg und Marburg waren die prägenden universitären Abschnitte meines Werdegangs. Allerdings war es weniger die Studienzeit, sondern vielmehr die Phase der Berufstätigkeit, die mich nachhaltig geprägt hat.

Wie unterscheidet sich das Studium von damals im Vergleich zu heute?

Damals war das Psychologiestudium bundesweit recht einheitlich strukturiert, mit einer klaren Rahmenprüfungsordnung. Es gab feste Vorgaben, welche Veranstaltungen zu belegen waren. Dadurch war die Ausbildung sehr standardisiert – ähnlich wie heute vielleicht noch im Bachelor. Allerdings ist es im Masterbereich heute ganz anders. Da gibt es eine große Vielfalt an Studiengängen, mit unterschiedlichsten Schwerpunkten. Besonders standardisiert ist heute nur die klinische Psychologie, weil dort klare Vorgaben bestehen. Damals war das anders: Das Diplom war in der Psychologie ein Qualitätssiegel, das überall dieselben Anforderungen stellte. Man konnte sicher sein, dass jemand mit einem Diplom in Psychologie eine einheitliche, fundierte Ausbildung hatte – egal an welchem Standort.

Auch der Studienaufbau war damals klar aufeinander aufbauend. Grundlagen kamen zuerst, Anwendungen später. Heute beginnt man oft schon früh mit anwendungsorientierten Inhalten, obwohl die Grundlagen noch nicht komplett vermittelt wurden. Das verlangt eine andere Herangehensweise in der Lehre.

Ein weiterer Unterschied liegt in den Spezialisierungsmöglichkeiten. Im Diplomstudium gab es die drei großen Anwendungsbereiche: klinische Psychologie, pädagogische Psychologie und Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Nicht jede Uni bot alle Bereiche an, aber man musste immer Prüfungen in allen großen Bereichen ablegen, unabhängig von der Spezialisierung.

Die Kontextbedingungen haben sich ebenfalls stark verändert. Als ich 1970 mit dem Studium begann, war die Einführung des NC gerade erst beschlossen worden. In Regensburg wurden damals alle Bewerber aufgenommen, um den Bedarf an neuen Stellen zu demonstrieren. Heute ist die Zahl der Studierenden viel höher, was natürlich auch andere Strukturen und Anforderungen mit sich bringt.

Auch das Abitur war damals anders. Nur 10 bis 15 Prozent eines Jahrgangs machten Abitur, verglichen mit etwa 45 Prozent heute. Dadurch waren die Studierenden damals eine handverlesene Gruppe und das Studium konnte entsprechend anders organisiert sein.

Man kann nicht klar sagen, ob das Studium damals besser oder schlechter war – es war einfach anders. Die größere Flexibilität und Internationalisierung durch Bachelor- und Masterstudiengänge bringen Vorteile, aber die klare Struktur und Einheitlichkeit des Diploms hatte ebenfalls ihren Wert. Jede Zeit hat ihre spezifischen Anforderungen und Bedingungen, der Wandel ist etwas, an das man sich immer wieder anpassen muss.

Was hat sich heute in der Studienstruktur, insbesondere in der Psychologie, verändert?

Ein zentraler Unterschied ist sicherlich die Integration der Psychotherapieausbildung ins Studium. Das ist eine der größten Änderungen: Die Ausbildung ist nun studienbegleitend und führt zu einem Staatsexamen in Psychologie. Damit hat sich der Weg zur Psychotherapeutenausbildung grundlegend verändert.

In anderen Bereichen, wie den Sozialwissenschaften, habe ich ebenfalls Veränderungen erlebt. Als ich 1993 zum ersten Mal hier in Mannheim war, gab es noch das Diplom in Sozialwissenschaften – eine Kombination aus Soziologie und Politikwissenschaft, ergänzt durch verpflichtende Sozialpsychologie. Damals wurde viel experimentiert, wie diese Bereiche organisiert werden sollten. Man hat sie später wieder aufgeteilt. Dann überlegte man, ob man sie erneut zusammenführen sollte. Solche Wechsel spiegeln oft den Versuch wider, Studiengänge besser an den Arbeitsmarkt anzupassen oder attraktiver für Studierende zu machen.

Ein gutes Beispiel ist die Diskussion um die Soziologie. Früher hieß es manchmal: Wer will schon Soziologie studieren? Daher versuchte man das Studium durch Kombinationen wie Sozialwissenschaften attraktiver zu machen. Heute sind Studienplätze in Soziologie aber auch eigenständig gefragt.

Insgesamt ist das Studium heute flexibler, aber auch stärker von äußeren Anforderungen geprägt – sei es durch den Arbeitsmarkt oder gesellschaftliche Veränderungen. Diese Entwicklungen erfordern ständige Anpassungen, was im Wesentlichen auch sinnvoll ist. Wandel gehört einfach dazu, auch wenn er Vor- und Nachteile mit sich bringt.

Gibt es einen Moment oder eine Entwicklung hier an der Universität Mannheim, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja, da gibt es einige! Wenn ich auf meine zwölf Jahre und neun Monate hier zurückblicke, hat sich wirklich viel getan. Besonders in meiner Zeit als Dekan haben wir große Schritte gemacht. Zum Beispiel haben wir das Dekanatsbüro deutlich professionalisiert. Früher gab es keine festen Verwaltungsstellen – heute haben wir ein gut funktionierendes Dekanatsbüro mit zwölf Mitarbeitenden. Das war anfangs nicht unumstritten, wurde aber mittlerweile als notwendig erkannt. Viele Aufgaben, die früher auf Lehrstühle abgewälzt wurden, wie Studienberatung oder Praktikumsorganisation, werden jetzt zentral verwaltet. Dadurch entlasten wir wissenschaftliche Mitarbeitende, die sich mehr auf ihre Forschung und Qualifikation konzentrieren können.

Ein weiterer Meilenstein war die Erweiterung der Fakultät durch neue Professuren und Studiengänge. Zum Beispiel haben wir im Bereich Psychologie die Ausbildung für Psychotherapie integriert. Außerdem haben wir mit Landesmitteln eine Professur für Social Data Science in der Politikwissenschaft eingerichtet und einen interdisziplinären Studiengang ins Leben gerufen, der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften verbindet. Gerade die Entwicklung im Bereich Data Science war für uns zentral, da sie die Fakultät fächerübergreifend verbindet – Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft arbeiten methodisch hier eng zusammen.

Diese enge Zusammenarbeit zwischen den Fächern ist etwas, das Mannheim besonders macht. Ich erinnere mich noch an meine Zeit in Tübingen, wo Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft eher getrennte Wege gingen. Hier in Mannheim herrscht hingegen ein gemeinsames Verständnis, das sich auf evidenzbasierte, empirische Methoden stützt. Diese Einheit war ein Grund, warum ich nach meinem ersten Aufenthalt hier gerne wieder zurückgekommen bin.

Ich bin stolz darauf, wie sich die Fakultät entwickelt hat. Wir stehen heute nicht nur gut da, sondern haben eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der Zusammenarbeit geschaffen. Das war mir immer wichtig: nicht nur Bestehendes hinzunehmen, sondern aktiv Veränderungen anzustoßen. Und ich denke, wir haben hier viel erreicht.

Gibt es etwas, das Sie aus Ihrem Studium mitgenommen haben, auf das Sie jetzt in Ihrer Arbeit aktiv zurückgreifen können?

Absolut! Man lernt ja eigentlich jeden Tag dazu, und natürlich auch im Studium eine ganze Menge. Klar, es gibt Inhalte, die man vielleicht nur für Prüfungen lernt und später vergisst. Aber die wirklich wichtigen Dinge, die bleiben. Es sind oft nicht die reinen Fachinhalte, sondern eher die Herangehensweisen, die man sich aneignet.

Ich denke da zum Beispiel an das Problemlösen: Wie analysiere ich eine Herausforderung? Wie organisiere ich mich? Wie entwickle ich Strategien, um damit umzugehen? Das wird einem im Studium nicht immer direkt beigebracht, aber man nimmt es mit, durch die Situationen, in die man gerät. Gerade bei mir – als ich ins kalte Wasser geworfen wurde, etwa in meinen ersten Lehrtätigkeiten, bei denen ich plötzlich viel Verantwortung übernehmen musste. Solche Erfahrungen prägen.

Das hat mir vor allem eines gezeigt: Man schafft mehr, als man denkt. Dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit, dass man schwierige Aufgaben angehen und erfolgreich bewältigen kann, ist für mich ein ganz zentraler Punkt. Es gibt einem das Vertrauen, auch neue, unbekannte Aufgaben anzupacken.

Ich halte es daher für wichtig, dass nicht alles von Anfang an vorgegeben wird. Klar, niemand sollte komplett ins kalte Wasser geworfen werden, aber ein bisschen Eigenständigkeit fordert und fördert enorm. Wenn man selbst Verantwortung übernimmt, lernt man am meisten – und oft bleibt dieses Wissen dann auch wirklich hängen. Das hat mir nicht nur im Studium geholfen, sondern begleitet mich bis heute in meiner Arbeit.

Gibt es ein Buch oder eine Lektüre, die Sie besonders empfehlen würden, wenn es um soziale Themen geht?

Ja, es gibt tatsächlich ein Buch, das ich sehr interessant und bereichernd finde. Es heißt „Wir alle spielen Theater“  von Erving Goffman – im Englischen “The Presentation of Self in Everyday Life”. Goffman hat darin ein Modell entwickelt, das aufzeigt, wie Menschen in sozialen Interaktionen immer wieder Rollen übernehmen, fast wie Schauspieler auf einer Bühne. Die Idee dahinter ist, dass unser Verhalten in sozialen Situationen wie eine Art „Aufführung“ ist, abhängig davon, welche Rolle wir gerade spielen.

Das Spannende daran ist, wie er das Konzept des symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead aufgreift und weiterentwickelt. Mead hat ja versucht, Psychologie und Soziologie miteinander zu verbinden. Goffman bringt das Ganze dann auf diese sehr anschauliche Ebene des Theaters. Für mich ist das eine faszinierende Metapher, weil sie zeigt, wie soziale Interaktionen funktionieren und wie stark wir von unseren Rollen geprägt sind.

Ich finde das Buch so wertvoll, weil es nicht nur ein Modell für soziale Interaktionen bietet, sondern auch eine andere Perspektive auf Gesellschaft und unser individuelles Handeln eröffnet. Es regt dazu an, Empathie zu entwickeln, indem man sich in andere Rollen hineinversetzt und versteht, unter welchen Zwängen oder “Constraints” andere handeln.

Sie haben selbst erwähnt, dass Sie theateraffin sind. Spielen Sie noch Theater oder gehen Sie zumindest regelmäßig?

Früher, während meiner Schul- und Studienzeit, habe ich tatsächlich selbst Theater gespielt – in der Theater-AG oder in Studentengruppen. Aber seitdem ich in den Beruf eingestiegen bin und vor allem mit der Promotion und Habilitation beschäftigt war, blieb dafür keine Zeit mehr. Was geblieben ist, ist meine Leidenschaft für das Theater als Zuschauer.

Ich finde es faszinierend, wie Schauspieler in ihre Rollen eintauchen und authentisch verkörpern, was ihnen eine tiefe Einsicht in die jeweilige Figur ermöglicht. Das hat mich immer beeindruckt – nicht nur wegen der schauspielerischen Leistung, sondern auch, weil es eine andere Perspektive auf menschliches Handeln eröffnet. Es zeigt, dass wir oft nur die äußere Fassade einer Person sehen, ohne zu erkennen, in welchem Rahmen – oder besser gesagt, in welcher Rolle – sie agiert.

Diese Theatermetapher lehrt uns, über unsere eigenen Rollen hinauszudenken und uns bewusst zu machen, dass andere Menschen oft in einem System von Erwartungen und Zwängen handeln. Das kann unglaublich bereichernd sein, gerade für das Verständnis von sozialen Interaktionen und Empathie.

Können Sie sich noch an Ihre erste Aufgabe als Dekan erinnern?

Oh ja, ganz genau sogar. Das war am 1. April 2012, mein erster Arbeitstag. Damals hatte ich noch keinen festen Büroraum, sondern habe in einem Gruppenraum angefangen, wo extra ein Schreibtisch für mich aufgestellt wurde. Meine allererste Aufgabe war es, eine neue Promotionsordnung für die Fakultät zu entwickeln. Ich habe diese Aufgabe dann 2012 begonnen, und 2013 wurde die neue Ordnung in Kraft gesetzt. Jetzt, 12 Jahre und 9 Monate später, arbeite ich gerade an der Novellierung dieser Promotionsordnung – ein interessanter Kreis, der sich da schließt. Die erste und die letzte Aufgabe meiner Amtszeit sind also fast identisch.

Zwischenzeitlich haben wir über die Jahre eine Liste geführt, um alle Probleme und Verbesserungsvorschläge zu sammeln, die sich aus meiner ersten Promotionsordnung ergeben haben. Die neue Version berücksichtigt das alles und wurde im Dezember im Senat beschlossen.

Gab es Herausforderungen in Ihrer Zeit als Dekan, die besonders knifflig oder anstrengend waren und Ihnen im Gedächtnis geblieben sind?

Oh ja, einige sogar. Besonders herausfordernd war die Zusammenarbeit mit anderen Fakultäten. Die größte Schwierigkeit bestand darin, sich auf die Verteilung der Ressourcen und Professuren zu einigen.

Die Situation war nicht einfach, weil es auch Misstrauen gab – man hat sich gegenseitig nicht immer vollständig vertraut. Es waren intensive Diskussionen, die auch emotional werden konnten. Es hat lange gedauert, bis wir eine Lösung gefunden haben, mit der beide Seiten leben konnten. Aber letzten Endes haben wir es geschafft, ein Ergebnis zu erzielen, das akzeptabel war und auf einem guten Weg ist.

Was mir diese Erfahrung gezeigt hat, ist, dass man sich auch durch schwierige Phasen nicht entmutigen lassen darf. Es hilft, dranzubleiben und geduldig zu bleiben. Gerade als hauptamtlicher Dekan hat man den Vorteil, dass man sich langfristig auf solche Prozesse konzentrieren kann, ohne von Amtszeiten oder anderen Verpflichtungen zu stark eingeschränkt zu sein.

Gab es noch andere komplexe Situationen, wie z. B. bei der Psychologie?

Ja, die Psychologie war und ist ebenfalls eine Herausforderung, besonders in Bezug auf die neuen Anforderungen für die Psychotherapieausbildung. Plötzlich wurden deutschlandweit viele neue Stellen geschaffen, aber geeignete Personen für diese Professuren zu finden, war ein schwieriger und langwieriger Prozess.

Das hat uns enorm viel Zeit gekostet und natürlich Spannungen erzeugt, weil andere Bereiche darunter gelitten haben. Aber ich bin froh, dass wir mittlerweile Fortschritte gemacht haben und wieder effektiver zusammenarbeiten können. Es war eine der schwierigsten, aber auch wichtigsten Aufgaben meiner Zeit als Dekan.

Rückblickend betrachtet, gab es etwas, das Sie durch solche Herausforderungen gelernt haben? Eine Fähigkeit oder ein bestimmtes Skillset, das Sie daraus mitgenommen haben?

Absolut. Das Wichtigste, was ich gelernt habe, ist, einfach dranzubleiben und sich nicht entmutigen zu lassen – auch wenn man Rückschläge erleidet oder wenn Argumente, die man für überzeugend hält, bei anderen nicht ankommen. Das kann wirklich frustrierend sein, gerade wenn man an eine Sache glaubt und sie für wichtig hält. Aber Durchhaltevermögen ist da entscheidend.

Eine andere wichtige Fähigkeit, die ich entwickelt habe, ist, Menschen und ihre Absichten besser einzuschätzen. Das geht zurück auf das, was wir vorhin besprochen haben, dieses Rollenspiel: Warum verhält sich jemand so, wie er es tut? Was will diese Person erreichen? Man muss sich davor hüten, sich bluffen zu lassen, denn in solchen Verhandlungen versucht jeder, seinen eigenen Vorteil durchzusetzen. Es geht also darum, genau abzuwägen, wo die Grenzen sind, ob etwas authentisch ist oder vorgespielt wird.

Das ist natürlich auch eine Frage der Lebenserfahrung, aber durch solche speziellen Situationen und die Interaktion mit bestimmten Personen lernt man immer wieder etwas Neues.

Ich hätte nicht gedacht, dass es an einer Universität so viele Konflikte oder Konkurrenzsituationen geben könnte.

Ja, das überrascht viele, aber das liegt oft an der Perspektive. Von außen wird eine Universität als eine einheitliche Organisation wahrgenommen. Von innen sieht es allerdings anders aus, weil wir verschiedene Interessen und Akteure haben – besonders, wenn es um knappe Ressourcen geht.

Ein gutes Beispiel war die Situation mit dem Studiengang Data Science. Es gab nur begrenzte Professuren für diesen Bereich, und die Informatiker argumentierten, das sei ja eigentlich ihr Gebiet. Gleichzeitig waren wir als Sozialwissenschaften schon lange an ähnlichen Studiengängen beteiligt, auch bei ihnen. Das führte dazu, dass wir bei einem neuen Studiengang ebenfalls Ressourcen einfordern konnten.

Die Herausforderung war, zu zeigen, dass wir gemeinsam etwas Neues schaffen können, indem wir die Ressourcen teilen. Das hat nicht jeder sofort verstanden, aber am Ende konnten wir ein Konzept entwickeln, das für beide Seiten akzeptabel war. Solche Situationen sind zwar anstrengend, aber sie bieten auch die Chance, kreativ zu werden und neue Wege zu finden.

Wie haben sich Ihre Aufgaben als hauptamtlicher Dekan von Ihrer vorherigen Rolle als Professor und nebenamtlicher Dekan unterschieden? Gab es Dinge, an die Sie sich schnell gewöhnen konnten, und andere, die eine größere Umstellung erforderten?

Die Unterschiede sind tatsächlich deutlich. Während meiner Qualifikationszeit – also während Promotion und Habilitation – lag mein Fokus ausschließlich auf der Forschung. Dazu kamen später die umfangreichen Lehrverpflichtungen als Professor, die man nebenher erledigen musste. Als ich meine erste Professur hier in Mannheim hatte und später den Lehrstuhl in Tübingen übernahm, kamen neben Forschung und Lehre auch administrative Aufgaben hinzu.

In Tübingen war ich fünf Jahre lang nebenamtlicher Dekan, was eine erhebliche Belastung war. Dort lag der Schwerpunkt aber weiterhin auf Forschung und Lehre. Besonders in der Lehre war ich sehr breit aufgestellt: Ich habe nicht nur Sozialpsychologie und Persönlichkeitspsychologie vertreten, sondern auch Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, nachdem wir intern einige Umstrukturierungen vorgenommen hatten.

Eine große Umstellung war hier in Mannheim die administrative Verantwortung als hauptamtlicher Dekan. Die Aufgaben sind umfangreicher, weil man stärker mit rechtlichen Rahmenbedingungen, Hochschulrecht und der Zusammenarbeit mit der zentralen Verwaltung und dem Rektorat konfrontiert ist. In einem hauptamtlichen Amt muss ich mich intensiver mit diesen Themen auseinandersetzen – ein Bereich, der bei einer nebenamtlichen Tätigkeit in Tübingen weniger relevant war. Das Hochschulrechtliche beispielsweise ist ein enormer Lernprozess gewesen, da wir als Universität sehr eng an rechtliche Vorgaben gebunden sind, was man von außen oft nicht sieht.

Ein weiterer Unterschied ist die Dynamik hier an der Fakultät. In den zwölf Jahren, die ich als Dekan tätig war, hatten wir rund 46 Berufungsverfahren – also durchschnittlich drei bis vier pro Jahr. Das ist extrem viel im Vergleich zu meiner Zeit in Tübingen, wo eine neue Besetzung eine Seltenheit war. Besonders zu Beginn gab es viele Juniorprofessuren, was das Ganze noch dynamischer gemacht hat, obwohl dieses Modell mittlerweile weniger verfolgt wird.

Rückblickend kann ich sagen, dass ich hier in Mannheim viele neue Fähigkeiten und Erfahrungen gesammelt habe, insbesondere in der Verwaltung und Führung einer Fakultät. Die Umstellung war sicherlich herausfordernd, aber ich konnte mich gut einfinden und auch von meiner früheren Erfahrung als nebenamtlicher Dekan profitieren.

Was sind die Vorteile und Unterschiede zwischen Juniorprofessoren und „normalen“ Professorenstellen?

Juniorprofessuren sind temporär und bieten eine Art Übergangsphase, um sich für eine unbefristete Professur zu qualifizieren. Der große Vorteil ist, dass Juniorprofessoren mehr Selbstständigkeit haben als in einer typischen Postdoc-Stelle, da sie auch eigene Forschungsprojekte leiten können. Eine Juniorprofessur ist aber in der Regel befristet, was sie im Vergleich zu einer „normalen“ Professur, die entfristet ist, zu einer weniger stabilen Option macht. Die Anforderungen im Berufungsverfahren sind für beide Positionen grundsätzlich ähnlich, was bedeutet, dass der Auswahlprozess gleich aufwendig ist, egal ob es sich um eine Juniorprofessur oder eine W3-Professur handelt.

Ein bedeutender Unterschied ist, dass Juniorprofessuren weniger attraktiv geworden sind, wenn sie nicht als Tenure-Track-Positionen ausgeschrieben werden. Früher war es noch üblich, dass Juniorprofessoren sich nach einer gewissen Zeit erfolgreich auf eine unbefristete Professur bewerben konnten. Heute gibt es bei uns jedoch immer weniger Juniorprofessuren, und die Besetzungsdauer auf einer Juniorprofessur ohne Tenue-Track kann sehr kurz sein – es gab sogar Fälle, in denen Juniorprofessuren nur für ein halbes Jahr besetzt waren.

Trotz dieser Herausforderungen finde ich Juniorprofessuren nach wie vor attraktiv, besonders weil sie den Vorteil bieten, dass man selbstständiger arbeiten kann als in einer typischen Postdoc-Position. Eine Juniorprofessur bietet also eine wertvolle Möglichkeit zur Weiterentwicklung im akademischen Bereich, auch wenn die Unsicherheit durch die Befristung einen Nachteil darstellt. Wenn ich in einer Karriereentscheidung stünde, würde ich mich immer eher für eine Juniorprofessur als für eine Postdoc-Stelle entscheiden, weil die Juniorprofessur mehr akademische Freiheit und Möglichkeiten zur Eigenständigkeit bietet.

Welche Werte und Prinzipien waren Ihnen in Ihrer Arbeit als Dekan besonders wichtig und haben Sie diese in der Fakultät verankern können?

Für mich waren in meiner Arbeit als Dekan besonders Fairness, Transparenz und Unparteilichkeit von zentraler Bedeutung. Ich wollte sicherstellen, dass keine Fachgruppe oder Person bevorzugt behandelt wird und dass alles so transparent wie möglich abläuft. Wenn etwas transparent gemacht wird, kann es jeder überprüfen, und das schafft Vertrauen in die Prozesse.

Ein Beispiel: Als ich hierherkam, war die Frage, wie man das Dekanat damals noch Fakultätsvorstand genannt zusammensetzt. Es wurde angemerkt, dass ich als Psychologe ja vielleicht dazu tendieren könnte, die Psychologie zu bevorzugen und daher auf einen Prodekan aus der Psychologie verzichtet werden kann. Ich habe jedoch klar gesagt, dass ich als hauptamtlicher unabhängiger Dekan komme und keine Fachgruppe bevorzugen werde. Alle drei Fachgruppen sollten im Dekanat vertreten sein. Dieses Prinzip der Unparteilichkeit wurde schnell akzeptiert, und ich denke, es war ein wichtiger Grund, warum ich das Vertrauen bekam, für eine zweite Amtszeit wiedergewählt zu werden.

Für mich war es wichtig, dass das Dekansamt mit Transparenz und Fairness geführt wird, sodass niemand das Gefühl hat, dass ungerechte Entscheidungen getroffen werden. Diese Prinzipien haben mir geholfen, Vertrauen zu schaffen und das Amt zu einer akzeptierten Institution zu machen. Nach meiner zweiten Amtszeit freut es mich besonders, dass das Amt des hauptamtlichen Dekans weiterhin fortgeführt wird – das zeigt mir, dass die Institution in diesem Modell Vertrauen hat.

Stichwort Zukunft – Inwiefern glauben Sie, dass die Sozialwissenschaften heute wichtiger sind denn je und welche Rolle die Fakultät spielt?

Ob die Sozialwissenschaften wichtiger denn je sind, ist natürlich schwer zu sagen, aber sie sind definitiv sehr wichtig. Sie sind zwar relativ junge Disziplinen, und man hat ihnen früher oft die wissenschaftliche Strenge abgesprochen. Heute ist jedoch klar, dass sie genauso wissenschaftlich arbeiten wie alle anderen Fachrichtungen. Was man aber beobachtet, sind gesellschaftliche Veränderungen, die auch unsere Disziplinen betreffen – und dabei geht es oft um den Schutz grundlegender Werte, die momentan in Gefahr geraten könnten.

Ein beunruhigendes Beispiel ist die zunehmende politische Radikalisierung und die Verbreitung von Extremismus, bis hin zu einer wachsenden Demokratiefeindlichkeit. Das geht oft Hand in Hand mit der Verbreitung von Fake News und dem Versuch, den gesellschaftlichen Diskurs zu manipulieren. Besonders besorgniserregend ist die Tendenz, das Vertrauen in die Wissenschaft zu erschüttern. Politische Akteure versuchen, Wissenschaft zu diskreditieren und Fakten zu relativieren, um ihre eigenen Interessen zu fördern – das ist gefährlich. Wenn man sich die Medienlandschaft ansieht, gibt es immer wieder Versuche, den wissenschaftlichen Konsens infrage zu stellen, indem man Wissenschaftler als „gekaufte“ Akteure darstellt.

Das sind alles Phänomene, die wir aus sozialwissenschaftlicher Sicht, insbesondere aus der Soziologie und Psychologie, analysieren müssen. Auch die Politikwissenschaft ist gefragt, Lösungen zu finden, wie man diesen Entwicklungen entgegenwirken kann. In einer Demokratie sind Wissenschaft und demokratische Prinzipien eng miteinander verbunden. Wenn man die Demokratie in Frage stellt, stellt man auch die Wissenschaft infrage. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die man genau beobachten muss.

Ich finde es erschreckend, wie in letzter Zeit immer mehr Menschen bereit sind, wissenschaftlichen Prinzipien zu hinterfragen und zu relativieren. Das macht deutlich, wie wichtig es ist, dass die Sozialwissenschaften sich aktiv mit diesen gesellschaftlichen Phänomenen beschäftigen und klar machen, dass es  keine alternativen Fakten  gibt. Wissenschaft muss als eine unabhängige und sachliche Instanz verteidigt werden, die auf klaren Prinzipien und Methoden beruht.

Insofern sind die Sozialwissenschaften heute wichtiger denn je, um diesen Entwicklungen entgegenzutreten. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind zwar nicht neu, aber sie haben sich in den letzten Jahren zugespitzt, gerade durch Ereignisse wie die Pandemie, die viele dieser obskuren Meinungen noch verstärkt hat.

Gibt es einen bestimmten Ort auf dem Campus, an dem Sie gerne Zeit verbracht haben? Was verbindet Sie mit diesem Ort?

Ein schöner Ort war definitiv mein Büro – mein früheres Büro als Professor der Mikrosoziologie wie auch heute aus dem Dekanszimmer -, besonders wenn ich aus dem Fenster auf die Straße schauen konnte. Ich hatte einen tollen Blick auf die Sternwarte und die Jesuitenkirche. Wenn man dann mal eine Pause machte oder einfach kurz nachdachte, war es wirklich inspirierend, aus dem Fenster zu schauen. Ich habe sogar ein Bild von diesem Blick gekauft, als ich von Mannheim weggezogen bin –der Ausblick hatte für mich fast etwas Meditatives.

Heute ist der Blick durch die Feuertreppe ein bisschen eingeschränkt, aber der Ort hat für mich immer noch eine besondere Bedeutung. Mein Arbeitszimmer war wirklich ein Ort, an dem ich mich sehr wohlgefühlt habe. Ich habe es oft genutzt, um kurz innezuhalten und meine Gedanken zu sortieren – der Blick auf die Kirche und die Sternwarte war da immer sehr inspirierend.

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